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Manchmal kommen Menschen zu mir in die Praxis, um in Ruhe gelassen zu werden. Klingt verrückt - sie könnten sich ja auch einfach ins stille Kämmerchen zuhause zurückziehen und hätten da ihre Ruhe. Stattdessen machen sie sich extra auf den Weg zu mir, nehmen Fahrt und Kosten auf sich, nur um dann ... in Ruhe gelassen zu werden.

Als mir das das das erste mal begegnete, kratzte das an meinem Selbstverständnis als Begleiter. Wie sollte ich den Menschen weiter helfen können, wenn ich nur da sitze und zuschaue, wie sich die Hände am Tonfeld bewegen - ohne jeden Kommentar, ohne jeden Hinweis.

Die Sache ist tiefgründiger, und die Arbeit am Tonfeld gibt es sogar her, vollkommen still begleiten zu können. Begleiten heißt nicht, einfach nur stumm herum zu sitzen, sondern zu verstehen. Es ist ein Riesenunterschied, für sich allein zu sein oder von anderen Menschen in Ruhe gelassen zu werden. In Beziehung! Da ist jemand, der mich in meinem So-Sein, wie ich bin, wie ich mich ausdrücke in meinem Tun, bedingungslos annimmt.

Viele denken ja, dieses 'Gebastel im Ton' habe mit dem richtigen Leben bzw. dem Handeln im Leben nicht wirklich viel zu tun. Das stimmt aber nicht. Das Tonfeld spiegelt den Menschen, er kommt mit sich und seiner biographischen Erfahrung in Berührung, ganz unmittelbar. Es geht um Erprobungen der Annäherung, der Hingabe, des Ergreifens, des Behauptens, des Sich-Verlassens usw. Und das alles soll mitmenschlich wahrgenommen, bezeugt, ausgehalten und eben: verstanden sein, sonst zählt es irgendwie nicht. Oft geht es dabei um tief spirituelle Erfahrungen, die als solche nicht ohne weiteres bemerkt werden. Es gibt ja keine Räucherstäbchen, keine Klangschalen, keine Meditationskissen, nur Tonerde.

Begegnung mit sich selbst

Was aber passiert, ist eine tiefe Selbstbegegnung, manchmal sogar ein kleines Erschrecken zu sich selbst, ein plötzliches Aufmerken: Huch, das bin ja wirklich ICH. Dies geschieht im Kontext einer Lebenserfahrung, die von Fremdbestimmung geprägt ist oder dem Erleben, nicht gut genug zu sein. Zu oft lauerte in solchen Fällen die Gefahr, dass ich korriert wurde oder mich dagegen behaupten und retten musste. Manche haben darüber eine extreme Sensibilität für Untertöne entwickelt. Sie prüfen jeden Satz bis ins 'Atomare', ob nicht irgendeine Andeutung, die Nuance einer kritischen Färbung mitschwingt - ein Minenfeld für den Begleiter. 

In der Haptik ist nun eine Artikulation möglich, die ganz andere Qualitäten auszudrücken vermag als Sprache. Und immer erzählen die Hände eine Sinngeschichte. Die Bewegungen sind zwar spontan, aber nicht zufällig, eher so wie improvisierte Musik. Der je nächste Ton ist unvorhersagbar, aber die daraus entwickelten Phrasen ordnen sich in eine harmonische Folgerichtigkeit. Und in alledem transportieren sie eine bestimmte Stimmung.

Wenn ich als Begleiter das Tun dieses Menschen am Tonfeld wirklich verstehe, ihn in seinem Ausdruck erkenne und wahrnehme, dann passiert auf seelischer Ebene etwas, was nicht passieren würde, säße ich nur gelangweilt daneben. Erwachsene arbeiten ja mit geschlossenen Augen. Sie können mich nicht sehen, während sie dort arbeiten. Aber der Unterschied ist riesig und hat mit Resonanz, mit Beziehung, mit Begegnung zu tun. Darin liegt ein großer Zauber dieser Arbeit.

In Ruhe gelassen werden

Die Erfahrung, in Ruhe gelassen zu werden, ist für viele Menschen unendlich heilsam, fühlt sich manchmal sogar an wie ein Geboren-Werden, wie ein Niederkommen. Das passiert dann auch ganz real. Die Hände kommen nieder, die Spannungen in den Schultern, im Atem, im Leib lösen sich. In diesem Setting muss an keiner Stelle eine besondere Vorsicht walten wie vielleicht sonst im realen Leben. Jede Form von Anstrengung fällt ab. Indem die Menschen also in Ruhe gelassen werden, können sie in Ruhe gelassen werden. Nicht von jetzt auf sofort, aber Schicht für Schicht.

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