Aggression, abgeleitet aus lat. ag gredi heißt im eigentlichen Wortsinn heran schreiten, angreifen. Heutzutage wird darunter in aller Regel eine angriffsbereite, feindselige Stimmung verstanden. Von daher wird Aggression fast immer negativ aufgefasst.
Wenn wir aber im Leben etwas in die Tat umsetzen wollen, eine spontane Idee, einen Plan, und uns nicht nur in harmlosem Klein-Klein verkleckern wollen, brauchen wir auch ein beherztes Heranschreiten, um die Sache eben ‚in Angriff’ zu nehmen. Hier ist der gleiche Handlungsbereitschaft am Werke, aber ins Positive und Gestalterische gewendet, nicht in die (vermeintliche) Verteidigung des eigenen Selbst, das sich ja bei feindlicher Aggression immer gefährdet fühlt.
Aggression als Organisation von Handlungsbereitschaft
Aus Sicht der Arbeit am Tonfeld lässt sich Aggression zurückführen auf die Organisation von Handlungsbereitschaft. Man könnte denken, handeln tut jeder irgendwie und zwangsläufig, schaut man die Menschen aber am Tonfeld an, dann gibt es viele, die nicht eingreifen können. Manchmal wiegt sich der Oberkörper mit der Bewegung der Hände mit, es kommt dann eine leicht schwelgerische und harmonierliche Note hinein und es wird erklärt, dass die Fläche so schön sei, so schön glatt, dass überhaupt kein Anlass und auch keine Lust bestünde, dort irgendwie hinein zu greifen. Tatsächlich steckt dahinter fast immer eine biographisch erworbene Verhinderung, eine Scham, ein verinnerlichtes Tabu, kurz: eine gebremste Aggression. Nicht selten haben diese Menschen, wenn sie in fortgeschrittenem Alter sind, mit chronischen Erkrankungen zu tun, die sich meist als Ausdruck einer nun nach innen gerichteten Aggression verstehen lassen.
Vergleichen lässt sich das mit der Nahrungsaufnahme. Nahrung muss gepflückt, vielleicht geschält, zugänglich gemacht werden, und dann auch zerkleinert, gekaut und schließlich verdaut werden. Das Vorgefundene wird also ergriffen, letztlich zerstört und in dieser Zerstörung zueigen gemacht, dem eigenen Organismus anverwandelt, so dass er daraus Energie beziehen und wachsen kann. Es handelt sich hier um eine schöpferische Zerstörung (der Begriff entstammt ursprünglich der Wirtschaftsforschung).
Sich formen an widerständiger Erfahrung
Für das personale, seelische Wachstum gilt genau dieselbe ‚Grammatik’ wie für das physische Wachstum. Wir bilden uns (als Person) in unserer verwandelnden Tätigkeit an der Welt, d.h. in unserem Handeln. Dazu müssen wir die Dinge, die wir vorfinden, uns irgendwie zueigen machen, den Dingen ein bisschen unseren Stempel verpassen, ein Stückchen unserer Seele dort hineinweben. Und das geht nur, wenn wir sie aufgreifen und verwandeln, d.h. ihre ursprüngliche Form zerstören und Neues in unserem Sinne zu gestalten. Die Auseinandersetzung mit dem Material (was sowohl ein rein physisches Material, aber auch ein geistiges oder soziales Material sein kann, z.B. die Begleitung oder Führung von Menschen) bildet den Menschen wie Kraft und Gegenkraft. Fehlt die Gegenkraft, die Widerständigkeit des Materials, so fällt der Mensch in ins (seelisch) Leere und verwahrlost mehr oder weniger. Verwöhnte Kinder, unverdient reiche Erben, Arbeitslose usw. sind Beispiele dafür. Die Widerständigkeit lenkt die Aggression und formt die eigene innere Organisation. Im guten – und eigentlich normalen – Fall erwächst daraus ein gesundes Kompetenzempfinden, innere Ausrichtung, auch Ethik und Willensstärke.
Sind die Widerstände zu schwach oder zu stark, resultiert daraus beide male eine gewisse Handlungsohnmacht. Der Prozess der personalen Entwicklung, und hier an erster Stelle die Organisation der inneren Handlungsbereitschaften, gewinnt keine klaren Konturen, keine Berechenbarkeit, keine wirkliche Ausrichtung. Sie zerfleddert, was dann zu Leerlaufhandlungen oder Ersatzhandlungen im Sinne einer zerstörerischen Aggression führt.
Zerstörerische Aggression – Behauptung der Eigenheit
Die zerstörerische Aggression ist das schärfste Mittel, um in der sozialen Welt einen Unterschied zu machen, um bemerkt zu werden, um sein Da-Sein und die eigene Wertigkeit zu behaupten. Der Aggressive kann nicht schadlos ignoriert werden. Zwar richtet sich dann die Aggression nach außen, das dahinterliegende eigentliche Lebensbedürfnis ist aber im Kern jedes Mal das gleiche, nämlich das Grundbedürfnis des Menschen, sich selbst zuzukommen (Sich-zukommen ist freilich ein schwer verständliches Wort, aber es trifft genau den Punkt. Es geht um das er-lebte Bewusstsein, Selbst sein zu können). Läuft dieser Organisationsprozess der Handlungsbereitschaft über einen langen Zeitraum schief, schleifen sich die Leerlaufmuster und Affektausbrüche in tiefere Hirnschichten zu quasi automatisierten Reaktionen ein, die dann nur sehr schwer oder nur unter sehr günstigen Bedingungen wieder in einen gesunden Ausgleich gebracht werden können.