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Gelassenheit

Gelassenheit ist die Heiterkeit des Herzens. Viele verwechseln Gelassenheit mit Coolness (= Show), Lockerheit (sie beschönigt oft ein 'Schlackern der Seele' bzw. einen Mangel an Kontur) oder demonstrativer Gelassenheit (das ist ein Machtinstrument). Echte Gelassenheit ist jedoch frei von allem Wollen, Darstellen, Überspielen. Sie ist halt... gelassen. 

Umgekehrt bedeutet Gelassenheit nicht ein Mangel an Tatkraft, Entschlossenheit oder Durchsetzungskraft. Eher ist sogar das Gegenteil der Fall. Wenn wir etwas ganz unbedingt und harsch etwas wollen, wecken wir auch viele Gegenkräfte. Menschen mit einer authentisch gelassenen Lebenshaltung können in anderer Weise extrem effizient sein, weil sie etwas Gewinnendes und Konstantes ausstrahlen. 

Die schönste Beschreibung von Gelassenheit, wie ich sie hier meine, habe ich kürzlich in dem lesenswerten Buch: Alles was Du suchst vom Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller Gabriel Barylli gefunden (es ist ein Weisheitsbuch in Romanform). Darin sagt der Protagonist über seine geliebte Frau: 

"(Früher, als ich noch noch ziemlich unreif war... ) hätte ich ihr Lächeln falsch verstanden und vor allem auch ihr Tempo. Sie hatte keine Eile. Seit ich sie kenne, habe ich niemals einen Tag erlebt, an dem sie gehetzt gewesen wäre. Es lag eine Aura der Gelassenheit um sie. Andererseits war sie auch niemals träge oder zu langsam. Es schien nur so im vergleich mit der rasenden Hektik unserer Normalität, als wäre sie langsam. Das war sie aber nicht. Das ist sie nicht. Sie war und ist - entsprechend. Das Tempo ihres Lebens war auf eine wundersame Art und Weise entsprechend."

Andere Lebensqualität

Gelassenheit ist ungleich viel mehr als nur eine schöne oder nützliche Lebenshaltung in bestimmten Situationen. Nicht umsonst gilt sie in allen Weisheitslehren als das große Entwicklungsziel. Sie beschert uns ein zufriedenes, glückliches, auch langes Leben - und dies unabhängig von den tatsächlichen Lebensumständen. Gelassenheit

  • beruhigt das Herz
  • ermöglicht ein viel freieres, liebevolleres Beziehungsleben
  • verleiht uns eine Aura, in der sich andere Menschen wohl fühlen
  • beugt jeder Art von Verhärtung und Verhärmung vor
  • macht uns genussfähiger
  • schenkt uns ein anderes Verhältnis zur Zeit
  • kennt keine Erschöpfungszustände (sich positiv verausgaben ist was anderes)
  • lässt uns bessere Entscheidungen treffen, weil wir unverstellter in die Welt blicken
  • Sie macht uns angstfrei.

Letzteres ist besonders wichtig. Meist ahnen wie kaum, wie viele subtile Ängste wir in uns tragen. Ängste machen eng, Gelassenheit weitet. Vermutlich ist Gelassenheit sogar unser natürlicher Lebenszustand, nur dass er in unserer überreizten Kultur kaum ge- und erlebt werden kann. Die gute Nachricht ist: Wir können es wieder lernen (dazu eine besondere Überraschung weiter unten).

Die Körperebene: Spannungen im Körpergedächtnis

Körpergedächtnis

Der eigentliche Wert der Gelassenheit ist mir erst relativ spät klar geworden. Nicht durch ein Meditationsseminar oder irgendein Buch, sondern durch die Arbeit am Tonfeld. Wenn Menschen etwas berühren und dabei zunächst keinerlei Absicht verfolgen, dann wird die Art der Berührung oder des Greifens selbst zum Gegenstand ihres Wahrnehmens. Dies macht, dass unweigerlich innere Bilder aufsteigen, Anklänge an früher Erlebtes, teils bewusst, teils unbewusst. Viele dieser Anklänge sind 'Körperbilder'. 

Mit Körperbild meine ich bestimmte, meist durch Erziehung geprägte Anspannungsmuster, die bei bestimmten Handlungsbereitschaften unwillkürlich aufploppen. Z.B. ziehen sich die Schultern nach oben, wenn wir das Material im Tonfeld berühren wollen. Oder die Hände verspannen sich. Vielleicht lehnt sich Körper zurück oder vor, der Atem wird angehalten usw. Für den Akt des Berührens braucht es keine dieser Zusatzanspannungen. Sie sind reines Lametta, Relikte alter Prägungen. 

Verzerrte Wahrnehmung

Das Dumme ist, dass diese Körperbilder wie eine Brille wirken, durch die wir auf die Wirklichkeit schauen. Sie verzerren unsere Wirklichkeitswahrnehmung. Wir interpretieren die Dinge oder Situationen nach Art unserer inneren Spannungen. Alles, was uns entspannt, tritt uns als angenehm entgegen. Kein Wunder also, dass gelassene Menschen diese innere Heiterkeit in sich tragen. Sie verspannen nicht. Sie können sich unverstellt jeder Berührung und Beziehungsaufnahme überlassen, sich öffnen für das, was wirklich ist. 

Solange diese Körperbilder nicht aufgelöst sind, ist wirkliche Gelassenheit nicht möglich. Mit der Arbeit am Tonfeld lassen sich jene alten Prägungen im Körpergedächtnis wieder abzuschütteln, dass ein verlässliches Grundvertrauen entstehen kann. Wenn genau im Augenblick einer Anspannung das richtige Wort fällt, wenn das, was als gefährlich oder schlimm erscheint vom Begleiter anders angesprochen und aufgefasst wird, verändert sich die Wahrnehmung. Darauf beruht die große Wirksamkeit der Tonfeld-Arbeit.  

Gelassenheit 2.0: die philosophisch-geistige Ebene 

Der Weg über den Körper ist der direkteste und in der Regel einfachste Weg, um solche fixierten, ins Körpergedächtnis eingeschriebenen Deutungsmuster aufzulösen. Wenn's gut geht, können wir aber auch auf philosophisch-geistigem Wege da herankommen. So vermag eine tiefe Einsicht unser gesamtes Deutungsgefüge zu verändern. Das hat dann manchmal den Charakter einer Spontanheilung. Es ist jedoch selten, dass uns eine Einsicht dermaßen tief erreicht, dass wir danach mit anderen Augen in die Welt schauen. 

Auf Einsicht - neben den Meditations- und Achsamkeitspraktiken - baut auch die Weisheitslehre des Buddhismus. Sie betont ja mit Nachdruck, dass alles ohne Bedeutung sei. Klingt zunächst komisch, denn schließlich hat doch ein jedes Ding seine Bedeutung. Aber das stimmt so nicht in Gänze. Der Ton am Tonfeld ist immer derselbe. Dem einen erscheint er hart, dem anderen kraftvoll, dem nächsten kalt und einem vierten erfrischend. Der Ton als solcher trägt keine dieser Bedeutungen in sich. Wir sind es, die Bedeutungen an das Material herantragen. Es bietet lediglich ein bestimmtes Spektrum an Erfahrungsmöglichkeiten an (lecker hat z.B. noch niemand zum Ton gesagt), worin wir uns selbst in Erfahrung bringen können. Alles, was uns begegnet, jeder Gegenstand, jeder Mensch, jede Situation, ist von dieser Art. Alles erfährt sich am je anderen. 

Die Welt ist ein einziges Spiegelkabinett. Es gibt keine absolute Bedeutung.

Perspektivwechsel

Wenn wir einmal diese Relativität wirklich verstanden haben, dann haben wir die Chance, von allen Bedeutungsgebungen zurückzutreten und ... gelassen zu werden. 

Selbstverantwortung für unsere Heiterkeit des Herzens

Daraus folgt aber, dass wir komplett selber für unser Leben verantwortlich sind. Wir können die Schuld für widrige Ereignisse nicht mehr auf die Ereignisse als solche schieben, sondern nur mehr auf die Bedeutung, die wir ihnen geben. Empfinden wir Einsamkeit ... oder endlich mal Ruhe? Stimmung ... oder übler Krawall. Schrecklicher Tod ... oder gnadenvolle Erlösung. Wir haben immer die Wahl der Perspektive. Und die Bandbreite der Deutungsmöglichkeiten ist riesig. Als einmal ein Wirbelsturm ein bestimmtes Reservat in den USA überflutete und etliche Häuser zerstörte, war in den Medien von einer schweren Katastrophe die Rede. Die dort ansässigen Indianer sagten: Das Tal hat sich gereinigt. 

Alle Bedeutungen basieren auf gesellschaftlichen Vereinbarungen (Kannibalismus ist unter Kannibalen mit einem leckeren Kochevent assoziiert). Die Kernfrage ist im Grunde nur, wie stark wir auf die Deutungsangebote einsteigen und ihnen anhaften. Oder und eben gänzlich davon lösen. Gelassenheit heißt: durchlässig sein.

Zu verinnerlichen, dass nichts in einem absoluten Sinne irgendwie bedeutsam ist, heißt umgekehrt nicht, allem gegenüber gleichgültig zu werden. Ganz und gar nicht. Wir können mit allem mitfühlen und mitschwingen, und das noch sogar viel authentischer, wenn wir nicht anhaften. Denn dann sind wir ja 'gefangen'. So aber werden wir mündiger.

Die zwischenmenschliche Ebene

Zu verstehen, ist die eine Sache. In mitmenschlicher Begegnung Gelassenheit zu leben, ist eine andere. Politische Diskussionen, Ehestreitigkeiten, quengelnde Kinder - Gelassenheit, war da was? Irgendwie tut es ja auch manchmal gut, richtig Pfeffer in die Suppe zu geben. Was lediglich nicht passieren darf, ist, dass wir ferngesteuert werden. Dass andere uns die Knöpfe drücken. Dass uns Worte oder Sätze am Wickel packen und uns hinreißen zu irgendwelchen Ausbrüchen. Da sind wir nicht mehr wir selbst. 

An dieser Stelle Gelassenheit zu predigen, hilft nicht viel, weil die Anspannung nun nicht mehr ausschließlich in mir bzw. im anderen als Person liegt, sondern zu einem großen Teil im Dazwischen. 

stille Gespräche

Jeder kennt die stillen Gespräche, wo obenhin irgendetwas gesprochen wird und untendrunter ganz andere Botschaften rüber kommen. Nach außen bleibt der Ton freundlich bis 'scheißfreundlich', und auf der seelischen Ebene herrscht Kampf. Die Erfahrung ist, dass solche stillen Gespräche auch unabhängig von der Gegenwart des anderen geführt werden können. Liebende kennen das, Streitende auch. Es handelt sich um ein rein seelisches Resonanzphänomen. Ich selbst erlebe dieses Resonanzphänomen immer so, als würde der oder die andere in mir arbeiten. Ziemlich real. Und ich in ihm, oder ihr. Inzwischen gibt es zu diesem Synchronizitätsphänomen auch wissenschaftliche Untersuchungen

Seelische Resonanzzustände

Vieles deutet darauf hin, dass der seelische Raum eine eigene Realität hat. Eigene Realität bedeutet, dass die Gesetze dort ein bisschen anders sind als in der Objektrealität. Insbesondere spielen dort Raum und Zeit keine Rolle (in meinem Buch 'Ganzheitliche Pflanzenheilkunde' habe ich im Kapitel: Der Teil und das Ganze' diese Verhältnisse genauer dargelegt). Wir können unsere Wahrnehmung für diesen Seelenraum schulen. Und das lohnt sich sehr, weil wir dann anders mit zwischenmenschlichen Situationen umgehen können. 

Gelassenheit auf dieser Ebene zu praktizieren, ist von etwas anderer Qualität als im körperlichen oder geistigen Bereich. Denn wenn wir in einem seelischen Resonanzverhältnis mit einem anderen Menschen stehen, sind wir nicht mehr vollständig Herr im eigenen Haus. Der Ursprung unserer Willensimpulse ist dann nicht mehr so klar, ob sie ganz aus uns selbst geschöpft sind oder ob der Quell im Dazwischen liegt. Ein Stückweit bilden wir nämlich eine gemeinsame Identität, die gleichpolig (bei Liebenden) oder gegenpolig (bei Streitenden) gestimmt sein kann. Die Folge ist, dass wir den anderen dann entweder blind verstehen oder überhaupt nicht.

Im gegenpoligen Fall verlieren wir unser Hören. Denn egal was der andere sagt, widersprechen wir. Da kann sich der andere auf den Kopf stellen, im Grenzfall kann er sogar mit alle seinen Aussagen komplett mit uns übereinstimmen, wir widersprechen trotzdem. Völlig verrückt - aber die meisten kennen das. Wenn wir gegenpolig gestimmt sind, ist Überein-Stimmung schlichtweg nicht möglich.

Herzöffnung

Herzöffnung

Das einzige, was da hilft ist: Herzöffnung. Sagt sich leichter als es umgesetzt ist. Herzöffnung hat auch zutiefst etwas mit 'lassen' zu tun. Nämlich dass wir Abstand davon nehmen, etwas bestimmtes zu wollen (z.B. den anderen überzeugen). Es liegt in der Natur der Sache, dass im Streit immer zwei unterschiedliche Willen aufeinander treffen. Und diese Unterschiedlichkeit schärft sich meist noch aneinander im Wirbel der hin und her geworfenen Argumente. Überein-Stimmung aber lässt sich so nicht herstellen.

Es geht nicht darum, auf einen eigenen Standpunkt zu verzichten und klein beizugeben. Aber wenn die Argumente für den eigenen Standpunkt sowieso nicht gehört werden (im Sinne eines wirklichen Nachfühlens), dann macht es überhaupt keinen Sinn, weitere Argumente vorzutragen. 

Erst wenn wir loslassen können von jeglichem Wollen, von jeglicher Verhaftung, nur dann entsteht wieder ein echtes Hören und auf der Gegenseite das Gefühl von 'Verstanden werden'. Und dann löst sich wie durch Wunderhand ganz vieles. Sprich: Es gibt auf einmal wieder Lösungen und Überein-Stimmung. 

Diese Herzöffnung hinzubekommen, ist eine hohe Kunst, alles andere als einfach. Sie muss geübt werden - wie jede Kunst. Wer aber diese Kunst beherrscht, der kann zaubern. Der kann Unmögliches möglich machen. 

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