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Für einen Physiker (wie mich) ist die Zeit ein großes Mysterium: Wo kommt sie her, wie konnte der U(h)rknall dieses geordnete Nacheinander aller Dinge hervorbringen, alles in Bewegung setzen? Und wie können wir uns selbst mit unserer womöglich zeitlosen Seele als zeitliche Wesen begreifen auf unserem unergründlichen Weg zwischen Geburt und Tod?

Die Gegenwart ist ein so hauchdünner Schlitz zwischen Vergangenheit und Zukunft, so dünn, dass fraglich ist, inwiefern sie überhaupt existiert. Sie ist wie ein scheues Tier, nie recht zu fassen, immer schon fort, sobald man sie meint, am Wickel zu haben. Jedes Nach-Denken über die Gegenwart kommt - zwangsläufig - zu spät. Und Gegenwart vor zu denken, quasi auf Reserve, geht auch nicht. Kurzweg: Mit dem reflektierenden Bewusstsein ist ihr nicht beizukommen.

Zeit heilt alle Wunden

Gleichwohl gibt es den Zustand der Gegenwärtigkeit, in den wir uns irgendwie einlassen können, nur halt nicht bewusst wollend. Bewusst können wir eine Öffnungsbereitschaft herstellen, aber dann ist es ein Sich-Überlassen.

Die Hände sind hier an dieser Stelle viel besser. Denn im Tun stellt sich oft wie von selbst und völlig nebenbei ein Zustand echter Gegenwärtigkeit ein. Hier verschmelzen, wenn wir uns genügend Zeit nehmen, Wahrnehmung und Bewegung zu einer Einheit, d.h. zu einem Erlebensmoment, der dann stetig fortrollt. In dieser Einheit liegt eine zutiefst heilende Qualität. Die meisten wissen davon, ahnen es, aber verstehen diese Qualität nicht in ihrer eigentlichen Tiefe. Genau darum soll es im Folgenden gehen.

Der Volksmund sagt salopp: Die Zeit heilt alle Wunden. Abwarten und (Kräuter-)Tee trinken, dann wird's schon. Stimmt ja auch oft, aber das ist nur der banale Aspekt von Zeit. Die Zeit kann viel mehr.

Tatsächlich lässt sich Zeit als echtes und sogar wundersames Heilmittel begreifen, wie eine Arznei, die sich einnehmen lässt - gegen Schlaflosigkeit, gegen Stress, gegen Nicht-In-(der)-Ordnung-sein. Dazu muss sie allerdings auch wie eine Arznei wirklich 'ein-genommen' werden. Und das ist für uns heutige, schnelllebige Gemüter nicht mehr so einfach. Wir haben kaum mehr Übung darin. 

Um die erlebte Zeit zu begreifen, müssen wir das Leben selbst begreifen. Leben ist bedeutungsschöpferische Aktivität, also jener Prozess, der Bedeutung/Sinn hervorbringt (wer sich tiefer dafür interessiert, findet in meinem Buch Ganzheitliche Pflanzenkunde ganz viel darüber nebst einem Fundus an Inspiration und neuartigen Gedanken, beginnend übrigens bei der Quantenphysik). Genaugenommen erwachen wir mit unserer Geburt nur inmitten dieser Aktivität (mitten im Leben), die letztlich - physikalisch ist das so - bereits mit dem Urknall angefangen hat. Es braucht also im Grund nichts anderes als Licht (Energie) und Zeit, und wie von Wunderhand organisiert sich daraus das gesamte Füllhorn der Evolution.

Alles gliedert sich rhythmisch, entwickelt Variationen, nabelt sich ab, bildet neue Nischen, webt sich ineinander, passt sich ein. Diese unglaubliche schöpferische Kreativität und Ordnung entsteht ganz aus sich selbst heraus, wenn, ja wenn man all dies den jeweiligen Eigenzeiten überlässt. Dort, wo Hast aufkeimt, entstehen Spannungen und gewachsene Ordnungen zerbrechen z.T. wieder (heute leben wir in einer überhasteten Zeit, und dieses Getriebensein führt kollektiv in die Kompliziertheit, nicht in die gelingende Komplexität). 

Über die Zeit als solche nachzudenken, kann einen schnell kirre machen. Schon Augustinus philosophierte: 

Was ist also die Zeit? 

Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemanden auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht. Das jedoch kann ich zuversichtlich sagen: Ich weiß, dass es keine vergangene Zeit gäbe, wenn nichts vorüberginge, keine zukünftige, wenn nichts da wäre. Wie sind nun aber jene beiden Zeiten, die Vergangenheit und die Zukunft, da ja doch die Vergangenheit nicht mehr ist und die Zukunft noch nicht ist?

Die Vergangenheit existiert nicht mehr, die Zukunft noch nicht, und in gewissem Sinne existiert die Gegenwart auch nicht. Gegenwart ist ein Übergang. Sie lebt von Rücklagen aus der Vergangenheit und Anleihen aus der Zukunft, aus dem Widerfahrenen und dem Ahnenden oder Sehnenden. An genau dieser Grenzfläche braut sich das sich selbst organisierende Spontane zusammen. 

Besser verstehen lässt sich sich am Beispiel der Musik. Wie die Gegenwart existiert auch eine Melodie ausschließlich im Vorüberfließen. Sie entsteht an der Grenzfläche von Erinnertem UND Erwartetem. Fehlte eines von beidem, würde jede Tonfolge in zusammenhangloses Geklimper zerfallen. Zwar kann der je nächste Ton beliebig gewählt sein, nicht aber die je folgende Phrase. Eine Melodie zu hören ist so banal wie das Erleben der Zeit. Aber es gehört ein ganzer Kosmos dazu. Permanent muss das Verflossene aktualisiert und mindestens für kurze Zeit im Bewusstsein präsent gehalten werden, derweil gleichzeitig fortlaufend ein nächster Eindruck hereinpoltert und abgeglichen werden muss mit dem soeben noch Erlebten. Aber in eben diesem Prozess kommt etwas zum Klingen. Bezogen auf die Zeit ist das das tiefe Erleben von Gegenwärtigkeit, als würden wir selbst Klang oder Melodie werden.

Gegenwart und Gegenwärtigkeit

Gegenwärtigkeit ist ein Innenraum, den wir nicht betrachten oder 'wissen' können. Sobald wir darüber reflektieren, ist dieser Zustand immer schon vorbei. Aber es ist ein zutiefst heilender Zustand, im Grunde DER heilende Zustand, weil wir dann nämlich angeschlossen sind an das Selbstorganisierende, und das wird ja oft auch als das Göttliche bezeichnet. Diesen Raum also können wir nur betreten. 

Methoden dazu, wie das geht, gibt es so einige. Die bekannteste ist Meditation. Oder Achtsamkeitstraining. Allerdings sind das künstlich hergestellte Situationen, die sich dann nicht so ohne weiteres in den Alltag transferieren lassen. 

Im Handeln geht es leichter. Handeln ist gewissermaßen der natürliche Weg letztlich zu uns selbst, sehr unscheinbar und unspektakulär, aber keinesfalls minder wirksam, wenn... ja wenn das rechte Maß der Zeit dabei gefunden wird. Wird dieses nicht gefunden, geraten wir in eine Art von Aktionismus und Eifrigkeit, sind dann im Kopf ganz woanders als in den Händen, im Grunde also nie bei uns selbst. Die Arten des Handelns, bei denen wir 'außer uns' geraten, sind: Handeln unter Zeit-Druck, funktionales Handeln, fremdbestimmtes Handeln, Handeln unter Erwartungsdruck usw.

Am Tonfeld treten dererlei Muster bei ganz vielen Klienten zutage. Da sind die Hände permanent unterwegs, immer in Bewegung, rastlos. Die Bewegungen müssen dabei gar nicht hektisch sein, können sogar vergleichsweise langsam ausgeführt sein. Und trotzdem wohnt ihnen eine Ruhelosigkeit inne, als stünde es einem nicht zu, die eigene Seele bei sich einkehren zu lassen. Man muss diesen Zustand der inneren Einkehr wenigstens einmal erlebt haben, um zu wissen, was hier gemeint ist. Es ist total erstaunlich, dass manchmal mit relativ wenigen Bewegungen am Tonfeld ein unglaublich tiefer Zustand der Ruhe erreicht wird, wie ihn die Klienten oft für sehr lange Zeit, teils sogar noch nie, erlebt haben. Das hat nichts mit Chillen zu tun, mal ausspannen, bisschen dösen oder so ähnlich. Dies hier ist eine Ruhe, die 'klingt', ein Ankommen im Gewahrsein. 

Der Satz: "Lassen Sie sich ruhig Zeit" gehört zu den häufigeren Sätzen in der Arbeit am Tonfeld. Es ist ein Zaubersatz, auch wenn dieses Zeit-lassen in den seltensten Fällen direkt aufgegriffen wird. Das geschieht nicht aus innerem Widerstand nach dem Motto, ich kann doch selbst bestimmen, wie viel Zeit ich mir nehmen will, sondern... es gelingt einfach nicht. Die Bewegung ist wie in einer Art Schwungrad gefangen, und dieser Schwung kann sich nur 'ausleppern'. Er lässt sich nicht von jetzt auf gleich abstellen. 

Da-Sein

Ich habe selbst mal am Tonfeld genau diese Erfahrung gemacht, bei Herrn Deuser (dem Erfinder der Arbeit am Tonfeld) in der Ausbildung. "Lass Dir ruhig Zeit", sagte er, als ich so bisschen fahrig zu Werke ging. Aber Zeit lassen, das war mir zu blöd. Ich wollte einfach 'mein Ding' reiten - ohne dass ich bemerkt hätte, wie sehr ich da in einer bestimmten Rolle festhing. 

Aber dieser Satz trägt Schichten ab. Das Gefühl, sich Zeit lassen zu können, sickert immer mehr ins Herz, und irgendwann - ziemlich unmerklich - kommt die Seele dem Tun der Hände wirklich an, Wahrnehmung und Bewegung verschmelzen zu einem Akt. In diesem Augenblick wandelt sich der Charakter des Handelns - man kann das deutlich sehen. Es fährt eine echte Erkenntnis in den Ausdruck der Hände, eine andere Art von Gewahrsein, auch von Lust, von Satt-werden, von Berührtsein. Und von da erwacht auch ein wirklich lebendiges, sinnerfülltes Interesse am eigenen Tun. Was da entsteht, ist Präsenz, man könnte auch sagen: Kohärenz - also ein Ein-Klang von äußerem und innerem Menschen. Ab da braucht es kaum noch eine weitere Ansprache von außen, also vom Begleiter, weil das Handeln - und darin der ganze Mensch - sich zu einer eigenen inneren, erfüllenden Ordnung selbst organisieren. 

Die Entspannung der Seele

Im Kern ist dies ein heiliger Moment - und heilender Moment, die Einkehr zu sich selbst, eine Art Nach-Hause-Kommen. Solche Momente können im Grunde in jeder mitmenschlichen Begegnung entstehen, und der Schlüssel dazu heißt ganz einfach: Zeit schenken. Da sein, um da zu sein. Zu keinem anderen Zweck. Und diese Zweckfreiheit bereitet einen Zeit-Raum, der - losgelöst von jedem funktionalen Gedanken - alle Möglichkeit bereitstellt, dass Menschen in Begegnung ihres eigenen Klanges gewahr werden können, also zurückfinden können zu sich selbst.

Der große buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh formulierte einmal diesen wunderschönen Satz, der ein Allheilmittel in allen Partnerbeziehungen sein kann: Darling, I am here for you. Nicht: Soll ich in der Küche noch etwas helfen, soll ich Staub wischen für Dich oder Dir ein wunderbares Abendessen bereiten. Zum Herrn mit all dem Aktionismus: Darling, I am here for you. Ich schenke Dir meine Zeit, dass Du Dich an mir in Deinem Da-Sein erleben kannst. 

Das ist übrigens in alteingesessenen Partnerschaften (evtl. mit viel Fernsehkonsum) gar nicht so einfach, kann es doch leicht damit verwechselt werden, dass sich beide nichts mehr zu sagen haben. Oder dass beide erwarten, dass doch irgendein Austausch losgehen müsste, sonst wäre es hier sinnlos verbratene Zeit, in der man auch Besseres hätte tun können. 

Der Unterschied dieser 'verbratenen' Zeit zu jener hier gemeinten heilenden Zeit ist vergleichbar dem Unterschied in einer Meditation zwischen einem schläfrig dösigen Zustand und jenem 100% präsenten, wachen und in sich ruhenden Zustand, wie er angestrebt wird. Wahrnehmende Ruhe. Der (geliebte) Partner kann ruhen am Da-Sein des Anderen - das ist geschenkte heilende Zeit. Das gelingt als Begleiter am Tonfeld, es gelingt auch in Beziehung, wenn es ein Bewusstsein - oder mindestens ein Gschmäckle - dafür gibt. 

Ein solcher Zeit-Raum ist immer ein Raum, wo gewissermaßen Gott zu Wort kommen kann (wie soll man es anders ausdrücken). Es ist einfach etwas Großes, was sich da auftut, ein Zwischen-Raum, der im Grunde immer da ist, aber fast nie wahrgenommen wird. Hier ent-spannt sich die Seele, kann sich also ausdehnen, was mit einem Empfinden von Weite, wenn es gut geht von Ganzheit und Ankommen einhergeht. 

Ich persönlich glaube ja, dass dieser Gewahrseinszustand im Grunde unser Urzustand ist, in dem indigene Völker auch heute noch leben, den wir aber in unserer Kultur verloren haben. Die gute Nachricht ist, dass wir uns wieder daran anschließen oder gewissermaßen zurückerinnern können. Die Arbeit am Tonfeld stellt sich dar als ein möglicher, vor allem so schön 'handfestester' und zugleich maximal schlichter Weg dorthin.

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