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Kritik mag kein Mensch wirklich gerne. Auch wenn vielfach betont wird, dass die Kritik sachlich, also nicht auf die Person bezogen, gemeint ist und überdies konstruktiv, fühlen sich die meisten trotzdem in ihrem Selbstwert angegriffen, als Person in Frage gestellt. Für den Kritisierenden mag die Kritik eine Bagatelle sein, der Kritikempfänger empfindet sie trotzdem oft – oder meist – als einen Stoß in die Seele. Genaugenommen gibt es keine wirklich gute Art, mit Kritik umzugehen. Um das eigene Getroffen-Sein abzufangen, gibt es bestimmte Techniken des Umgangs, sei es, dass man sofort auf eine reine Sachebene wechselt, etwa in dem Sinne, dass Menschen generell nicht fehlerfrei arbeiten und somit die eigene Person zur Allgemeinperson erklärt wird, zu der man eine gewisse Distanz und Außenperspektive einnehmen kann. Oder man gesteht einen Fehler mit einer bekennenden Geste rasch ein, spielt alles ein bisschen herunter und schaut, dass man zum nächsten Thema kommt. Oder man geht in Verteidigung, dass die Kritik so nicht gerechtfertigt ist oder oder oder. Ein wirklich gelassener Umgang mit Kritik – und nicht nur mit gespielter, abwiegelnder Gelassenheit – ist jedenfalls selten und eigentlich auch nicht erwünscht, weil man als Kritisierender ja auch explizit wünscht, dass sich der Kritisierte das ‚zu Herzen‘ nimmt. Sachlich sein und zu Herzen nehmen, beides zusammen geht eigentlich nicht.

Kritik in oben erwähnter Weise einstecken oder ‚weg-stecken‘, braucht ein einigermaßen stabiles Selbstwertgefühl, um danach nicht, oder zumindest nicht für lange, das Gefühl zu haben, nicht gut genug zu sein, nichts Wert zu sein, nicht tauglich zu sein für dieses Leben. Bei schwach ausgeprägtem authentischem (also nicht kognitiv zurechtgebasteltem) Selbstwertgefühl setzen genau diese letztgenannten Selbstbewertungen ein und die Person gerät in einen letztlich hypnotischen Zustand, was nichts anderes meint als einen Zustand fixierter Aufmerksamkeit und mehr oder weniger automatisiert aufgerufener Handlungsmuster. Manche Ehen gestalten sich darüber sehr schwierig, wenn für einen von beiden (oder für beide) das eigene Selbst vermientes Gelände ist. Man sieht es auch in der Politik, wenn da um einzelne Kommata gerungen wird, weil man eben ein unglaublich genaues Gehör für jeden Unterton, für jede Nuance der Formulierung entwickeln kann und daraus Stimmungen oder Gestimmtheiten herausliest. Man kann solche Meisterschaft des feinen Ohres als Fähigkeit bewundern, praktisch aber macht sie das Leben anstrengend und kompliziert. Eine gewisse Derbheit, wie sie insbesondere in einigen Dialekten gepflegt wird, kann da manchmal recht gesund sein, wenn sie nicht gerade in der Gefahr stehen würde, in zu grobe Vereinfachung oder gar Polemik zu verfallen. Wie aber spricht man mit einem Menschen, der wie das Kaninchen auf die Schlange schaut und unterschwellig jede Äußerung hoch aufmerksam auf mögliche kritische Äußerungen hinsichtlich seiner Person abscannt? Man fühlt sich dann nach kurzer Zeit genötigt, besonders vorsichtig zu formulieren, jedem winzigen Ansatz von Kritik gleich alle Möglichen Relativierungen bezufügen, was meist nur wenig hilft. Kritik wird immer viel intensiver gehört als die Relativierung.

Das beste Mittel, was einem aber nicht in jeder Situation und auch nicht jedem Naturell zur Verfügung steht, ist warmherziger Humor. Der darf auch mit Übertreibungen spielen, sich an verrückten Bildern oder Metaphern versuchen, aber es muss immer durchscheinen, dass man die Menschen i.a. und den Menschen im Besonderen im Grunde seines Herzens liebt, dass man sich mit ihm auf einem Boot fühlt auf der Reise durch das Leben.

Kritikfähigkeit und Selbstwertgefühl sollte man meinen, spielen sich vor allem im Kopf ab. Am Tonfeld zeigt sich der starke Leibbezug dieser Eigenschaften.  dieses ‚vermiente Selbst‘ in einer Verhaftung der Bewegung. Prinzipiell kann jeder Hände und Arme frei bewegen, ohne den Leib daran beteiligen zu müssen. Menschen, bei denen Kritik als ein Infragestellen ihrer Person in die Glieder fährt, können die Glieder in ihrer Spontanbewegung eben nicht abgelöst vom Leib bewegen. Wird Ton herausgenommen, dann zieht nicht nur der Arm, sondern der ganze Mensch daran. Die Bewegungen sind nicht frei, sondern immer Leib-verhaftet.

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